Grundlegende Akzeptanz bei weiterem Unterstützungsbedarf: Die neue gymnasiale Oberstufe in Schleswig-Holstein

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27.06.2024 Pressemitteilung
Im Schuljahr 2021/2022 hat das Land Schleswig-Holstein eine neu gestaltete gymnasiale Oberstufe eingeführt. Ein Kernziel: In den Oberstufen der Gymnasien und Gemeinschaftsschulen sollen individuellere Schwerpunkte und neue Lernformen ermöglicht werden. Das DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation hat die Umsetzung wissenschaftlich begleitet. Dazu wurden Schulleitungen und Lehrkräfte befragt. Nach den jetzt veröffentlichten Ergebnissen bewerten sie die Reform im Grundsatz mehrheitlich positiv. Zugleich machen die Befragten deutlich, dass die Neuerungen in der Praxis viele Herausforderungen mit sich bringen, wofür sie sich weitere Unterstützung wünschen.

Ein zentraler Baustein der neuen Oberstufe ist die Möglichkeit für die Schüler*innen, zwei von drei Kernfächern (Deutsch, Mathematik und fortgeführte Fremdsprache) mit jeweils fünf, das dritte mit drei Wochenstunden zu belegen. Damit gehen jeweils auch unterschiedliche Anforderungsniveaus einher – Niveaudifferenzierung genannt. Solche Modelle kommen in den meisten Bundesländern zum Einsatz. So soll auch mehr Vergleichbarkeit geschaffen werden. Bislang waren in Schleswig-Holstein für die drei Fächer einheitlich vier Stunden für alle Schüler*innen vorgesehen. Eine weitere Neuerung: Die Schulen können nun sogenannte Profilseminare anbieten, in denen die Schüler*innen zum Beispiel eigene Projekte durchführen. Dabei erkunden sie fächerübergreifend Themen aus den Profilbereichen der Schulen (zum Beispiel MINT), lernen eigenständig und im Team zu arbeiten und sollen so besser auf ein Studium vorbereitet werden.

Das DIPF hat die Einführung der neuen Oberstufe im Auftrag des schleswig-holsteinischen Ministeriums für Allgemeine und Berufliche Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur wissenschaftlich begleitet. Dazu hat das Forschungsteam ein halbes Jahr nach dem Start der Neuerungen 108 Schulleitungen und 234 Lehrer*innen online befragt, vertiefende Interviews mit Teilnehmenden durchgeführt und schulstatistische Angaben ausgewertet. Im Fokus stand, wie die Veränderungen an den Schulen angenommen und die neuen Gestaltungsmöglichkeiten genutzt werden. Außerdem wurden die Leitungen und Lehrkräfte danach gefragt, wo die Reform besondere Herausforderungen mit sich bringt und damit weitere Unterstützung und Optimierung notwendig ist.

Ausgewählte Kernergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung

„Die strukturellen Neuerungen in der Oberstufe von Schleswig-Holstein werden von den Lehrkräften und Schulleitungen im Grundsatz positiv bewertet. Das bildet eine gute Basis für die weitere Umsetzung“, sagt Dr. Marko Neumann vom DIPF, der wissenschaftliche Leiter der Untersuchung. Er ergänzt: „An den vielfach genannten Herausforderungen und Aufwänden – vor allem im schulorganisatorischen Bereich – zeigt sich, dass die Reform mit der Einführung erst am Anfang steht. Hier ist zu prüfen, inwieweit nachgesteuert und weitere Unterstützung geleistet werden muss.“

Konkret bewerten mehr als 90 Prozent der Schulleitungen die eingeführte Niveaudifferenzierung als richtigen Schritt. Nach ihrer Einschätzung wird man damit den heterogenen Lernvoraussetzungen und Interessen der Schüler*innen besser gerecht. Auch sind mehr als zwei Drittel der Lehrkräfte der Meinung, dass die Niveaudifferenzierung das gezielte Unterrichten erleichtert. Nach Einschätzung des überwiegenden Teils der Schulleitungen und Lehrkräfte werden die Neuerungen auch von den Schüler*innen gut angenommen. Das vom Großteil der Schulen angebotene Profilseminar empfinden knapp 90 Prozent der Schulleitungen als eine Bereicherung für das fächerverbindende und projektbezogene Lernen.

Zugleich äußert die Hälfte der Schulleitungen und Lehrer*innen, dass die Niveaudifferenzierung den schulorganisatorischen Aufwand stark erhöht hat, weitere 40 Prozent beider Gruppen berichten hier von leicht negativen Effekten. Das betrifft etwa die Gestaltung der Stundenpläne, die Kurseinteilung und die Personalplanung. Außerdem wünscht sich die Mehrheit der Lehrkräfte mehr Vorgaben und Unterstützungsangebote hinsichtlich der Leistungsanforderungen, der Gestaltung des Unterrichts und der Bewertungsmaßstäbe auf den beiden Niveaustufen.

Grundsätzliche Entwicklungen und Empfehlungen

Generell fällt auf: Bedeutende Teile der Schüler*innen verfügen nach Einschätzung der unterrichtenden Lehrkräfte nicht über die erforderlichen Lern- und Leistungsvoraussetzungen für das Erreichen der Lernziele auf beiden Niveaustufen der Kernfächer. „Je stärker das gemeinsame Lernfundament bei Eintritt in die Oberstufe ist, desto größer erscheinen die Spielräume für individuelle Schwerpunktsetzung und Flexibilisierung“, wie Dr. Neumann anmerkt. Zudem zeigt die Auswertung der schulstatistischen Angaben, dass die Fünf-Stunden-Kurse in Deutsch eher von Mädchen, die in Mathematik eher von Jungen besucht werden. Die Forschenden unterstreichen, dass diese Geschlechterunterschiede im weiteren Bildungsverlauf im Blick behalten werden sollten.

Der Ergebnisbericht weist darauf hin, dass der Reform ein umfassender Dialog mit Beteiligten- und Interessengruppen vorausgegangen ist. Zudem sei die Umsetzung durch personelle Ressourcen und Fortbildungen unterstützt worden. Die Forschenden empfehlen, solche Angebote fortzusetzen und auch schulübergreifende Formate für Erfahrungsaustausch und Netzwerkarbeit anzudenken. Für belastbarere Aussagen zum weiteren Verlauf der Reform hält das wissenschaftliche Team zusätzliche Erhebungen für notwendig – insbesondere auch der Einschätzungen und Lernergebnisse der Schüler*innen.

Der Ergebnisbericht der wissenschaftlichen Begleitung im Rahmen der NEOS-Studie (NEOS = Neue Oberstufe) des DIPF steht online frei zur Verfügung.

Kontakt

NEOS-Studie: Dr. Marko Neumann, DIPF, +49 (0)69 24708-791, bS5uZXVtYW5uQGRpcGYuZGU=
Presse: Philip Stirm, DIPF, +49 (0)69 24708-123, cC5zdGlybUBkaXBmLmRl, cHJAZGlwZi5kZQ==