Zum Gedenken an Christoph Führ
Zum Gedenken an den Bildungshistoriker Christoph Führ
(24. Dezember 1931, Berga (Kyffhäuser) – 3. Juli 2024, Stadtprozelten)
Im ehrwürdigen Alter von 93 Jahren ist Christoph Führ verstorben. Nicht allein das DIPF sollte sich an seinen langjährigen Mitarbeiter in Frankfurt erinnern, sondern vor allem die Gemeinde der Bildungshistoriker und -historikerinnen. Sie verliert einen Kollegen, der publizistisch wie organisatorisch, kritisch und engagiert, forschend und beratend entscheidend daran mitgewirkt hat, dass aus der alten und so betulichen Geschichte der Pädagogik die heute so produktive und renommierte bildungshistorische Forschung geworden ist. Dass dabei auch die BBF in Berlin und im DIPF ihre national wie international so singuläre Gestalt und Aufgabe gefunden hat, erinnert daran, wie bedeutsam Führ auch für Berlin nach 1990 war.
Christoph Führ wurde 1931 in einem evangelischen Pfarrhaus in Thüringischen Berga geboren, flüchtete 1950 vor den Folgen der Machtergreifung der SED, die ihm schon das angestrebte Studium verwehrt hätte, in den Westen. Dort studierte er von 1951 bis 1957 an den Universitäten in Tübingen, Wien und Hamburg, wo er 1957 mit einer Arbeit über „Die Beziehungen des österreichisch-ungarischen Armeeoberkommandos zur österreichischen Regierung vom Kriegsausbruch 1914 bis zum Februar 1917“ promoviert wurde. Danach war er von 1957 bis 1965 im Sekretariat der KMK in Bonn tätig, in einer Zeit, in der die KMK unter dem Generalsekretär Kurt Frey den allmählichen Aufbruch der Bildungspolitik, wie er mit den Arbeiten des „Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen“ seit 1953 begonnen hatte, mit eigenen Aktivitäten engagiert begleitete. Das reichte bis hin zu den strukturellen Vorgaben für das Bildungswesen und für die Stärkung der föderalen Struktur, wie sie das Hamburger Abkommen von 1964 dokumentiert; die KMK, und Führ engagiert dabei, haben so schon mit fundierten Diagnosen und realistischen Perspektiven für die Bildungspolitik aufgewartet, bevor Georg Picht meinte, die „Bildungskatastrophe“ entdeckt zu haben. Mit der Gründung des Deutschen Bildungsrates begann nach 1965 eine neue Phase der Bildungspolitik, unter hohen Reformerwartungen und -ambitionen – aber da ging Christoph Führ ins DIPF. Er blieb dort bis 1996 als Mitarbeiter in der Abteilung für allgemeine und vergleichende Erziehungswissenschaft, bis 1971 geleitet von Walter Schultze, danach von Wolfgang Mitter. 1996 ging er in den Ruhestand, dem Status nach immer noch als Mitarbeiter des DIPF, aber seit 1986 hatte zumindest die Johann Wolfgang Goethe-Universität mit der Vergabe eines Lehrauftrags seine akademischen Verdienste anerkannt.
Der Blick auf diese wenigen Etappen seiner beruflichen Karriere verdeckt aber die eigenständige und weit über Frankfurt hinaus bedeutsame Arbeit, die Führ kontinuierlich vor allem als Bildungshistoriker geleistet hat. Für diese Leistung in einem in den 1960er Jahren der Innovation so bedürftigen wie auch angesichts personeller Umbrüche so offenen Feld war Führ durch seine eigenen Studien und zugleich durch seine außeruniversitäre administrativ-politische Praxis exzellent vorbereitet. Die Gutachter seiner Doktorarbeit waren Fritz Fischer, sein Doktorvater, und Otto Brunner. Der erste blieb mit seinen Studien über die Kriegsschuldfrage und den Ersten Weltkrieg – Führs Dissertation gehört in dieses Feld – bis heute weltberühmt (und kontrovers diskutiert), der andere war zwar ns-belastet, wurde aber zugleich ein Vorläufer der Sozialgeschichte wie – „Brunner/Conze/Koselleck“ ist die Referenz – auch für die „Historischen Grundbegriffe“ ein Pionier. Für den Bildungshistoriker Führ war es aber vielleicht ebenso folgenreich und systematisch wichtig, dass er im Sekretariat der KMK, nachdem er sich an der Universität mit den großen Fragen der deutschen Nation befasst hatte, auch den Alltag der Bildungspolitik erlebte, die besondere Rolle des Föderalismus – unter einem souveränen Akteur wie Kurt Frey – zu würdigen lernte und schließlich auch den Dauerkonflikt der deutschen Bildungspolitik zwischen den großen Visionen und Ideologen und der Realität schulischer Praxis in einer neuen Phase der Ambitionen und Illusionen studieren und mit bearbeiten konnte. Diese Arbeit hielt Lektionen bereit, die Führ bis ins hohe Alter nicht vergaß.
Nüchterner wie kritischer Beobachter
Seine ersten Veröffentlichungen bei und mit Walther Schultze und in dessen Arbeiten über „Schulen in Europa“ zeigten Führ erstmals 1968 und dann immer wieder als den so nüchternen wie kritischen Beobachter der Struktur und Dynamik des deutschen Schulsystems und seiner Reformrhetorik, adressiert an ein internationales Publikum, vorzüglich aber auch für die interne Selbstbeobachtung der deutschen Akteure geeignet und genutzt. Nicht zuletzt seine Methode der Analyse von „Schulen und Hochschulen in der Bundesrepublik Deutschland“ qualifizierte ihn schließlich auch, gemeinsam mit Carl-Ludwig Furck, die Bände VI.1 und VI.2 im „Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte“ zu edieren und dabei für die Zeit seit 1945 mit seinen Koautoren nicht allein die Schulgeschichte, sondern die Erziehungswirklichkeit der beiden deutschen Staaten bis zur Gegenwart umfassend zu präsentieren. 1998, als diese Bände erschienen, spiegelten sie aber auch schon den Ertrag eines Lebenswerkes, das im Schriftenverzeichnis von Christoph Führ, das 1997 erschienen ist, bereits mehr als 50 Druckseiten umfasste und das opus des Bildungshistorikers Führ in seiner ganzen Breite (aber noch nicht umfassend) dokumentierte. Die bibliographischen Angaben sind hier gattungsspezifisch gruppiert, nach Büchern (3 Seiten, und das „Handbuch“ fehlt noch), „Aufsätze“ (11 Seiten, bis 1996), Übersetzungen ins Englische, Französische, Spanische und Japanische und dann „Rezensionen“. Nicht weniger als 42 Druckseiten werden mit den Nachweisen seiner Rezensionspraxis seit 1968 gefüllt, in der Kontinuität und im Volumen allenfalls vergleichbar dem Ertrag seiner gemeinsam mit Wolfgang Mitter edierten Reihe der „Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte“. 1997 werden dafür 65 Bände nachgewiesen, insgesamt 73 sind bis 1999 erschienen. Hier, in den Rezensionen und in seiner Editionspraxis, erkennt man besonders deutlich die Rolle des Förderers und Inspirators der Bildungsgeschichte, die Führ mit seinem Lebenswerk wahrgenommen hat.
Aber über der Prominenz und Produktivität des Rezensenten und Editors sollte man den genuin historisch forschenden Führ nicht ignorieren. 1970 analysierte er die „Schulpolitik der Weimarer Republik“ für die Zeit bis 1933 – 1972 schon in 2. Auflage erschienen – und lieferte, akademisch gesehen, nach den Studien bei Schultze erneut ein ‚zweites Buch‘, also das Äquivalent einer Habilitationsleistung. Hier analysiert er, umfassend quellenbasiert, die Realität einer bildungspolitischen Praxis, die entweder vom Ende her gesehen wird oder aus der Perspektive der Reformer, aber doch nur zu selten als politische Praxis eigener Art, quasi aus sich selbst heraus erfolglos, und mit hoch renommierten Akteuren wie Carl-Heinrich Becker, den Führ eher entzaubert als heroisiert. Während dieses bis heute bekannte Buch immer neu zitiert wird, kennen seine Abhandlungen über die Berufsgeschichte der Oberlehrer, im Arbeitskreis moderne Sozialgeschichte vorgetragen, dagegen wohl nur die Spezialisten, obwohl die Lektüre bis heute lohnt. Auch eine Trouvaille wie die Erinnerung an Fritz Fischers Arbeiten zur preußischen Bildungsgeschichte, die vor ihm allein Spranger wahrgenommen hatte, ist wahrscheinlich ebenso vergessen wie seine Ausführungen über „Luther und die deutsche Bildung“, die zugleich belegen, wie wirksam die Herkunft aus dem Pfarrhaus ihn lebensgeschichtlich bestimmt hat. Historiographisch und nicht nur hagiographisch sollte man auch seine Studien zur Geschichte des DIPF lesen, die er wiederkehrend vorgelegt hat (und am Rande sehen, dass er auch die wichtige Geschichte des DIPF von Peter Mast betreut und zugänglich gemacht hat).
Diese Erinnerung an seine eigenen historischen Arbeiten ist aber notwendig, weil man sie über der thematisch wie zeitlich so umfassend ausgreifenden und vielfältigen Rezensions- und Editorentätigkeit gelegentlich ignoriert. Für die historische Bildungsforschung, das muss man gleichzeitig aber auch sagen, waren diese Kärrnerarbeiten von elementarer Bedeutung, denn wer rezensiert schon so umfassend, dass er damit, nebenher, auch eine Chronik des bildungshistorischen Schrifttums für mehr als ein Vierteljahrhundert liefert. Vergleichbar sind seine Betreuungs- und Entdeckungsfähigkeiten, die sich in der Reihe spiegeln, für die Autoren nicht hoch genug zu schätzen und für die Bildungsforschung unersetzlich geworden. Wer den rezensierenden Führ las, wusste, was es an Neuerscheinungen gab und was man davon halten konnte (und wer in seiner Nähe in Frankfurt arbeitete, konnte die Bücher schon bei ihm ausleihen, bevor die Bibliotheken sie hatten, und seine eigene Bibliothek, nahezu 20.000 Bände, war ohnehin die beste bildungshistorische Forschungsbibliothek). Wer wiederum in diesen Revieren promovierte oder eine neue Analyse in Buchform zu präsentieren suchte, der konnte auch mit Führ rechnen, der nicht nur die Manuskripte produktiv kommentierend las, sondern auch schon früh neue Verfahren der Publikation und die technischen Möglichkeiten des DIPF nutzte, um kostengünstig die aktuelle Forschung auf den Markt zu bringen. Die Studien liefern mit ihren Autoren insofern eine Liste des akademischen Nachwuchses, den das Fach im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat, und die Dokumentationen machten die Arbeit bildungspolitischer Gremien ebenso verfügbar wie sie an Akteure erinnerten, die man häufig übersehen hatte. Willy Hellpach z.B. konnte man so kennenlernen, den liberalen Politiker und unorthodoxen Psychologen der Weimarer Zeit.
Seine Offenheit für die Bildungsgeschichte und die Bildungspolitik bestätigte sich erneut und hoch produktiv nach 1989/90, als im Prozess der deutschen Einigung auch die Pädagogik der DDR – als Praxis ihres Bildungssystems ebenso wie als System seiner Reflexion – zur Disposition stand. Auch die APW und die Pädagogische Zentralbibliothek im Haus des Lehrers gerieten so in den Strudel der Transformationsprozesse. Wertvolle Bestände an Daten und Literatur, zu schweigen von dem Humankapital, drohten unwiederbringlich verloren zu gehen. Führ engagierte sich, zusammen mit Wolfgang Mitter und dem DIPF, mobilisierte seine alten Kontakte in die Politik von Bund und Ländern, so dass schließlich Berlin zu einem weiteren Standort des DIPF wurde – ohne dass er retrospektiv sich selbst und seine wichtige, ja unersetzliche Rolle in diesen Prozessen ins Rampenlicht rückte, vielmehr den Ruhm seinen Mitstreitern ließ. Aber dass die BBF, wie Führ es konzipiert hatte, zu einer international vernetzten, in den Arbeitsmethoden innovativen bildungshistorischen Forschungsbibliothek wurde, das hat er zufrieden gesehen, und auch, dass mit der BBF eine bildungshistorische Professur verbunden wurde, die wiederum eng in die Universität eingebunden ist.
Nicht nur hier hat er sich selbst ein Denkmal gesetzt. Christoph Führ hat sich mit seinem Lebenswerk für das DIPF im Besonderen und für die bildungshistorische Forschung im Allgemeinen verdient gemacht, und wir sollten seiner in Dank, Anerkennung und produktiver Erinnerung gedenken.
Heinz-Elmar Tenorth