Standards im Abitur: Keine einfache Lösung in Sicht

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23.05.2019 Hintergrund
Es ist ein Thema, das immer wieder die Gemüter erregt: die Diskussion über Schwierigkeitsgrad, Vergleichbarkeit und Chancengleichheit in Sachen Abiturnoten. In den vergangenen Wochen protestierten erneut Schülerinnen und Schüler in vielen Bundesländern gegen die in ihren Augen zu umfangreichen und missverständlich formulierten Aufgabenstellungen in der schriftlichen Mathe-Prüfung. Auch die Forscherinnen und Forscher des DIPF beobachten die Sachlage genau.

Die Vorwürfe, die in den letzten Tagen von Abiturientinnen und Abiturienten mehrerer Bundesländer geäußert wurden, sind klar und deutlich: Zu umfangreich seien einige der Themenbereiche gewesen, zu textlastig und nicht ausreichend im Unterricht vorbereitet so manche Aufgabenstellung. Die Forderung in mehreren Petitionen an die entsprechenden Kultusministerien: diesen Umstand bei der Notengebung zu berücksichtigen und den Schnitt wenn nötig entsprechend anzuheben, um nicht dafür zu sorgen, dass angehende Studierende – womöglich ohne eigene Schuld – auf den gewünschten Studienplatz verzichten müssen. Kritik an den Abituraufgaben hagelt es 2019 nicht zum ersten Mal. Im Jahr 2016 etwa zeigten ähnliche Proteste in Niedersachsen sogar Erfolg und die Abiturnoten – ebenfalls in Mathe – mussten durch das Ministerium an den üblichen Schwankungsbereich von früheren Jahrgangsergebnissen angepasst werden.

Für DIPF-Wissenschaftler Dr. Marko Neumann hat die Thematik in diesem Jahr sogar zwei Perspektiven. Als Bildungsforscher begleitet er eine solche Debatte nicht zum ersten Mal, ist er doch als stellvertretender Leiter der DIPF-Abteilung Struktur und Steuerung des Bildungswesens seit vielen Jahren unter anderem auf das Thema Oberstufe und Abitur spezialisiert. Zum anderen hat die Sache für ihn auch als Vater Relevanz. Denn sein Sohn ist ebenfalls mit gemischten Gefühlen aus der eigenen schriftlichen Mathe-Abschlussprüfung gekommen. „Wenn man dann wenige Tage später die ersten Nachrichten über gestartete Unterschriftenaktionen in vielen Bundesländern liest, verfolgt man das Ganze natürlich mit besonderem Interesse“, so Neumann.

Mehr als 80.000 Unterschriften

Tatsächlich stiegen die Teilnahme-Zahlen bei den Petitionen, die Schülervertreterinnen und -vertreter etwa über das Portal change.org gestartet hatten, über die Tage stark an. In Bayern sind inzwischen über 73.000 Unterschriften zusammengekommen, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen zählen jeweils über 6.000 Unterstützer*innen. Auch in weiteren Bundesländern wurden Petitionen gestartet. In allen Fällen geht es um die Aufgaben in Mathematik, wobei nicht eine einzelne Aufgabe, sondern je nach Bundesland unterschiedliche Aufgaben moniert werden. „Da stellt sich natürlich schon die Frage, ob die Aufgabenstellungen in mehreren Bundesländern im Vergleich zu den Vorjahren tatsächlich übermäßig schwerer geworden sind oder ob die Schülerinnen und Schüler ein Stück weit versuchen, über mediale Aufmerksamkeit zu milderen Bewertungsstandards zu gelangen“, bringt Neumann auf den Punkt, wie das Thema gerade deutschlandweit diskutiert wird. „In jedem Fall sollte das Schwierigkeitsniveau der Aufgaben sorgfältig geprüft werden. Sollte sich abzeichnen, dass die Notendurchschnitte bei den Matheprüfungen deutlich schlechter ausfallen als in den Vorjahren, wird sicherlich über Anpassungen in den Bewertungsmaßstäben nachzudenken sein. Das sollte man jetzt aber in Ruhe abwarten.“

Die aktuelle Debatte fügt sich in die übergreifende Diskussion um das Anspruchsniveau und die Vergleichbarkeit beim Abitur ein. Immer mehr Schülerinnen und Schüler streben zum Abitur, im Jahr 2017 waren es 40,3 Prozent eines Altersjahrgangs, in einigen Bundesländern sogar über 50 Prozent. In den vergangenen 10 Jahren ist die Abiturientenquote in Deutschland um nahezu 10 Prozentpunkte gestiegen. Die mittlere Abiturdurchschnittsnote hat sich im gleichen Zeitraum in den meisten Bundesländern um ein bis zwei Zehntel verbessert, wie man den entsprechenden KMK-Statistiken (nachzulesen auf der Website der Kultusministerkonferenz) entnehmen kann. Auch die Anteile der Abiturientinnen und Abiturienten mit der Bestnote 1,0 haben sich in fast allen Bundesländern deutlich erhöht. „Da kann man natürlich schon etwas skeptisch werden, wenn so ein Anstieg bei den Abiturientenzahlen gänzlich ohne Leistungseinbußen vonstatten zu gehen scheint“. Kritiker der aktuellen Entwicklung vermuten deshalb bereits eine „Noteninflation“ beim Abitur. Überprüfen lässt sich das jedoch bislang kaum.

»Wenn sich viele Stimmen heute für vergleichbare Standards im Bildungswesen aussprechen, dann darf man dabei nicht nur über Lehrpläne und Abituraufgaben sprechen. Man muss auch bei der Qualität der Bildungseinrichtungen viel stärker auf Standards achten.«

Denn die Sache ist: Während Schulstudien in Deutschland gute Überblicke über das Leistungsniveau in der Grundschule und Mittelstufe (zum Beispiel die regelmäßige PISA-Studie oder die Ländervergleiche zum Erreichen der Nationalen Bildungsstandards) geben, lässt sich die Entwicklung des Kompetenzstandes von Oberstufenschülerinnen und -schülern bislang fast nur an den Abiturdurchschnittsnoten der Länder ablesen. „Einzig in Hamburg hat es in den letzten Jahren mit der LAU- sowie der KESS-Studie eine wiederholende Kompetenzmessung mit standardisierten Leistungstests am Ende der Oberstufe gegeben. Deren Ergebnisse legen nahe, dass das Leistungsniveau trotz eines deutlich gestiegenen Anteils von Abiturientinnen und Abiturienten weitgehend stabil geblieben ist“, so Neumann, der aber betont, dass dies natürlich keine wissenschaftlich fundierten Aussagen für ganz Deutschland erlaubt. Wiederholende bundeslandübergreifend vergleichende Kompetenzmessungen bei den Abiturientinnen und Abiturienten vorzunehmen und diese zu den erreichten Noten im Abiturzeugnis in den Bundesländern in Beziehung zu setzen: „Für die Forschung würde das sicher spannende Erkenntnismöglichkeiten bringen. Für die Politik möglicherweise aber auch große Probleme, denn dann würden eventuell auftretende Unterschiede zwischen den Ländern erst recht sichtbar und Fragen nach dem Leistungsniveau der Abiturienten und der Vergleichbarkeit der Abiturnoten noch drängender“.

Bundesweite Standards sollen umgesetzt werden

Was also kann getan werden, um zu mehr Vergleichbarkeit bei den Abituranforderungen zu gelangen, wäre ein bundesweites Zentralabitur die Lösung? „Dann würden alle Schülerinnen und Schüler die gleichen Abituraufgaben erhalten. Wenn dann noch anonym und streng standardisiert durch externe Lehrkräfte anderer Schulen (evtl. sogar aus anderen Bundesländern) ausgewertet würde, würde man sicher die Vergleichbarkeit der Leistungsanforderungen erhöhen können“, so Neumann. Allerdings: „Ob das dann auch eine gerechtere Lösung ist, scheint mir fraglich. Denn dann müsste auch sichergestellt sein, dass Schülerinnen und Schüler mit ähnlichen individuellen Lernvoraussetzungen unabhängig von der besuchten Schule, Schulform oder ihrem Bundesland die gleiche Chance hätten, die Prüfung erfolgreich zu meistern, und das ist angesichts der unterschiedlichen schulischen Lernumwelten immer nur eingeschränkt gegeben“.

Insofern sollte man sich vom Gedanken vollkommener Vergleichbarkeit und absoluter Gerechtigkeit beim Abitur ein Stück weit lösen, da sich dies kaum realisieren lassen dürfte, rät Neumann. GleichwohI seien natürlich weitere Anstrengungen notwendig, um das Maß an Vergleichbarkeit und Gerechtigkeit weiter zu steigern. Einen Ansatzpunkt bieten die bundesweiten Bildungsstandards für das Abitur, die von den Kultusministern im Jahr 2012 verabschiedet wurden und erstmals für den Abiturjahrgang 2017 zur Anwendung kamen. „Es mangelt aber einfach noch daran, zu überprüfen, inwiefern diese Standards umgesetzt und erreicht werden“, so der DIPF-Wissenschaftler. Er hofft darauf, dass diese Standards nach und nach tatsächlich Einzug in den Unterricht finden und letztlich für eine bessere Vergleichbarkeit sorgen.

Dennoch betont der Bildungsforscher, dass Normierung und Vergleichbarkeit nicht alles seien und es auch gelte, die individuellen Ausgangslagen der Schülerinnen und Schüler zu berücksichtigen: „Denn natürlich bringt die höhere Anzahl an Abiturientinnen und Abiturienten eine viel größere Heterogenität mit sich. Wenn 50 Prozent der jungen Menschen eines Altersjahrgangs zum Abitur antreten, beinhaltet das unterschiedliche Voraussetzungen: im Elternhaus, bei den Interessen, der Motivation und bei vielen anderen Faktoren.“ Das dürfe man nicht einfach außer Acht lassen, rät Neumann. Und noch etwas spielt für ihn eine ganz entscheidende Rolle: „Wenn sich viele Stimmen heute für vergleichbare Standards im Bildungswesen aussprechen, dann darf man dabei nicht nur über Lehrpläne und Abituraufgaben sprechen. Man muss auch bei der Qualität der Bildungseinrichtungen viel stärker auf Standards achten“, betont Neumann. „Sprich: Es darf nicht nur um Standards für die Leistungen der Schülerinnen und Schüler gehen, sondern eben auch um solche für Schul- und Unterrichtsqualität.“

 

Portraitfoto Dr. Marko NeumannMarko Neumann leitet am DIPF den Arbeitsbereich Bildungsstrukturen und Reformen. Dabei setzt er sich unter anderem mit Veränderungen und Reformmaßnahmen rund um das Abitur und die gymnasiale Oberstufe auseinander und befasst sich mit Fragen der Qualitätsentwicklung im Bildungswesen.