Welche Lernstrategien sind für Kinder am besten geeignet?

Welche Lernstrategien sind für Kinder am besten geeignet?
@Gorodenkoff – stock.adobe.com
28.09.2020 Hintergrund
Lernen Kinder anders als Erwachsene? Prof. Dr. Garvin Brod, Leiter des Arbeitsbereichs Individuelle Förderung am DIPF, hat gemeinsam mit seiner Kollegin Jasmin Breitwieser diese Fragestellung untersucht. Dabei fanden sie heraus, dass Lernstrategien erst dann erfolgreich sein können, wenn bei den Lernenden bestimmte Vorbedingungen erfüllt sind. Das hat auch Auswirkungen auf die Tätigkeit von Pädagog*innen.

Sollten Lehrkräfte in Abhängigkeit vom Alter ihrer Schüler*innen unterschiedliche Strategien nutzen? Die Antwort auf diese Frage mag für die Bildungspraxis offensichtlich scheinen, doch sie ist aus Sicht der Bildungsforschung erstaunlich unklar.

So gibt es exzellente Übersichtsarbeiten im Bereich der Lernstrategieforschung, die verschiedene Techniken evaluieren, um die effektivste Lernstrategie für alle Lernenden zu identifizieren. Unklar bleibt jedoch, ob solche Strategien für alle Altersgruppen gleichermaßen effektiv sind, da die meisten Übersichten Untersuchungen von Studierenden an Hochschulen thematisieren. Es gibt dagegen wenig systematische Forschung zu altersbezogenen Unterschieden in der Wirksamkeit von Lernstrategien.

Eine beliebte Gruppe von Strategien ist beispielsweise die der sogenannten „Generativen Lernstrategien“. Hier erschließen sich die Lernenden den Sinn neuer Inhalte (zumindest in Teilen) selbst, indem sie diese zu ihrem bereits vorhandenen Wissen in Beziehung setzen. So werden etwa Concept-Maps erstellt, Fragen zu einem Text formuliert oder Konzepte erklärt. Studien zeigen, dass solche Strategien effektiver sind als passive Ansätze (wie etwa das wiederholte Lesen von Texten) – dies trifft zumindest auf erwachsene Lernende zu.

Wie aber sieht es mit der Wirksamkeit solcher Ansätze für Kinder aus?

In einer neuen Studie sind Jasmin Breitwieser und ich dieser Frage nachgegangen. Wir verglichen die Lernerfolge von Hochschulstudierenden mit denen von Grundschulkindern. Teilnehmende aus beiden Altersgruppen arbeiteten dazu jeweils unter zwei verschiedenen Bedingungen an einer Aufgabe zum Faktenlernen, wobei sich die Bedingungen nur hinsichtlich der generativen Lernstrategie unterschieden.

Kinder lernen besser über Vorhersagen

In einem Fall wurden die Teilnehmenden gebeten, Vorhersagen zu einer Aussage zu machen (z.B. „Wie viele von zehn Säugetieren können fliegen?“), bevor ihnen die korrekte Antwort gezeigt wurde.

Im anderen Fall wurden die Teilnehmenden gebeten, ein passendes Beispiel zu nennen, etwa: „Kannst Du ein Säugetier nennen?“.

»Sogar Strategien, die auf den ersten Eindruck ähnlich scheinen, erfordern vielleicht unterschiedliche Fähigkeiten, die sich abhängig vom Alter herausbilden können.«

In unserer Studie zeigte sich, dass die Hochschulstudierenden beide Strategien gleichermaßen erfolgreich einsetzten. Die Grundschulkinder profitierten jedoch deutlich stärker davon, Vorhersagen zu treffen als ein Beispiel zu nennen. Woher rührt dieser Unterschied?

Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir darüber nachdenken, weshalb diese Strategien überhaupt erfolgreich sind – abgesehen davon, dass sie die Lernenden zur Anwendung ihres bestehenden Wissens anregen. Unsere bisherige Forschung hat gezeigt, dass das Treffen von Vorhersagen sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern Überraschung hervorruft. Dies ist besonders dann der Fall, wenn das Vorhergesagte sich als falsch erweist. Solche Überraschungseffekte führen zu erhöhter Aufmerksamkeit und zu besserem Lernerfolg.

Fähigkeit zum analogen Schlussfolgern reift bei Kindern erst noch heran

Aus anderen Studien ging hervor, dass gute Beispiele als Gedächtnisstütze dienen können und somit beim späteren Abrufen von Informationen helfen. Das Generieren von guten Beispielen erfordert die Fähigkeit zum analogen Schlussfolgern, die mindestens bis ins spätere Jugendalter ausreift. Könnte also das noch nicht voll entwickelte analoge Schlussfolgern für die Schwierigkeiten verantwortlich sein, die Grundschulkinder mit dem Benennen von Beispielen haben?

Dies testeten wir, indem wir die Kinder im Anschluss an die Lernaufgaben eine standardisierte Aufgabe zum analogen Schlussfolgern durchführen ließen. Tatsächlich zeigte sich, dass das analoge Schlussfolgern bei den Kindern damit zusammenhing, wie gut sie von dem Benennen von Beispielen profitieren konnten. Darüber hinaus ähnelten die Kinder desto mehr den Erwachsenen darin, beide Strategien gleich gut nutzen zu können, je besser ihr analoges Schlussfolgern ausgeprägt war. Diese Befunde unterstützen die Hypothese, dass gutes analoges Schlussfolgern eine Voraussetzung dafür ist, von dem Benennen von Beispielen als Lernstrategie profitieren zu können.

»Es gibt zwischen den einzelnen Kindern enorme Unterschiede und die Fähigkeiten von Kindern können sich sehr schnell ändern, was sich auf den Nutzen von Lernstrategien auswirkt.«

Unsere Studie legt nahe, dass Lehrkräfte bei der Entscheidung über den Einsatz von Lernstrategien die unterschiedlichen Voraussetzungen verschiedener Lernstrategien berücksichtigen sollten. Dies gilt besonders für die Arbeit mit Kindern. Sogar Strategien, die auf den ersten Blick ähnlich scheinen, erfordern vielleicht unterschiedliche Fähigkeiten, und diese wiederum unterscheiden sich womöglich durch den altersbedingten Verlauf ihres Erwerbs. So kann es passieren, dass gewisse Lernstrategien erfolgreich von Hochschulstudierenden eingesetzt werden, während Grundschulkinder diese Strategien noch nicht wirksam nutzen können.

Strategie für Lehrkräfte: Beachten Sie das Alter und individuelle Unterschiede

Eine weitere Dimension für die Frage, welche Lernstrategie für wen geeignet ist, ergibt sich aus der Erkenntnis, dass manche Kinder – diejenigen mit einer sehr guten Fähigkeit zum analogen Schlussfolgern – durchaus vom Benennen von Beispielen profitieren können. Es gibt zwischen den einzelnen Kindern enorme Unterschiede, und die Fähigkeiten von Kindern können sich sehr schnell ändern, was sich auf den Nutzen von Lernstrategien auswirkt.

Daher sollten Bildungsforschende um evidenzbasierte Leitlinien für die Auswahl optimaler Lernstrategien für jedes einzelne Kind bemüht sein, und diese Leitlinien müssen die sich rasch verändernden Fähigkeiten der Kinder berücksichtigen. Zum jetzigen Zeitpunkt sollten sowohl Bildungspraxis als auch Bildungsforschung eines beachten: Was gut ist für Erwachsene, ist nicht immer gut für Kinder.

 

Dieser Beitrag wurde zuerst beim BOLD-Blog veröffentlicht.
Autor: Prof. Dr. Garvin Brod
Übersetzung: Gwendolyn Schulte

 

Portraitfoto Prof. Dr. Garvin BrodProf. Dr. Garvin Brod leitet den Arbeitsbereich Individualisierte Förderung in der Abteilung Bildung und Entwicklung am DIPF. Zentrale Themen seiner Forschung sind die individuelle Förderung von Kindern im Grundschulalter sowie die Entwicklung von Lern- und Gedächtnisprozessen.