Über Zukunft und Herkunft – Bildung mit der notwendigen Distanz betrachten

Schmuckbild: Buchregal BBF
@DIPF
10.07.2019 Interview
Kann das Wissen über die Geschichte der Bildung helfen, aktuelle Probleme zu lösen? Und welchen Platz sollte der Blick für die langfristigen Entwicklungen im Kanon der Bildungsforschung einnehmen? Zu diesen Fragen hat Prof. Dr. Sabine Reh eine Menge zu sagen. Sie ist Direktorin der BBF | Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung, einer Abteilung des DIPF. Im Interview konkretisiert sie ihre Perspektive anhand von drängenden Herausforderungen unserer Zeit.

Frau Reh, Sie führen in der BBF gerade eine Diskussion über die strategische Ausrichtung dieser Forschungsbibliothek. Worin sehen Sie zukünftige Kernaufgaben der BBF?

Die BBF muss – wie das DIPF als Leibniz-Institut insgesamt – weiterhin Wissen über Bildung generieren, Infrastrukturen anbieten, damit dieses Wissen entstehen kann, und es bereitstellen und verbreiten. Es muss sich dabei um Wissen handeln, das genutzt werden und nützlich sein kann – sowohl in den Schulen und in den Kitas, als auch in der Bildungspolitik. Irgendwelche Vorgaben, wie das Wissen zu nutzen ist, machen wir allerdings nicht.

Und woher wissen Sie, welches Wissen gesellschaftlich relevant beziehungsweise nützlich ist?

Dafür müssen wir die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen kontinuierlich im Blick behalten und analysieren, welche Herausforderungen für das Bildungswesen daraus erwachsen. Erst im Anschluss an eine solche Diagnose können wir unsere inhaltlichen Themenbereiche abstecken und Forschungsprogramme entwerfen.

Welche drängenden Herausforderungen sehen Sie denn derzeit?

Sie kreisen um die nicht ganz neue Frage: Was macht eigentlich die Qualität von Bildung aus? Um das zu beantworten, reicht es nicht herauszufinden, mit welchen Methoden Schülerinnen und Schüler am meisten lernen oder wie sich eine Lehrkraft in der Klasse verhalten sollte. Es gilt – unabhängig von den Verfahren – die Qualität von Bildung inhaltlich zu bestimmen. Damit werden zentrale Problemkreise auf die Tagesordnung gesetzt.

Was zählen Sie dazu?

Dazu zähle ich beispielsweise die Frage nach den Möglichkeiten einer Gemein-schaftserziehung vor dem Hintergrund fortschreitender Individualisierung, die Frage, ob überhaupt und welche kulturellen Traditionen und welche Art eines „Orientierungswissens“ zu lehren sind, die Frage nach der Struktur von Wissen angesichts technischer Entwicklungen wie der heutigen Digitalisierung und den Bedarf einer Grundbildung, ohne die jede Form der Teilhabe der Menschen in unserem Staat nicht gewährleistet werden kann. Das sind zweifellos alte Fragen, auf die unter anderen Bedingungen schon in vielfältiger Weise reagiert wurde, die aber in einem neuen Kontext neue Antworten erfordern. Unmittelbar empirisch lassen sie sich nicht klären; vielmehr kommt es darauf an zu diskutieren, wie und bis zu welchem Punkt man sie überhaupt beantworten kann oder beantworten möchte.

Welche weitere Fragestellung zum Bildungswesen sehen Sie als wichtig an?

Wir müssen klären, in welcher Weise Zugänge zu Bildung und zum „Bildungswissen“ erfolgen, wie sie erleichtert und organisiert werden können. Das reicht von der Umsetzung der Schulpflicht über die Gesichtspunkte der Verteilung der Schülerinnen und Schüler auf Schulen bis zu den Auswirkungen der Digitalisierung auf die Organisationsform Schule. All diese Punkte muss man daraufhin abklopfen, in welcher Weise Auslese, Selektion und auch Segregation virulent werden können. Wir müssen wissenschaftliches Wissen liefern – als Basis dafür, Zugangsmöglichkeiten beeinflussen zu können. Und ich möchte nach wie vor daran festhalten, dass in einem demokratischen Staat so etwas zu gewährleisten ist, was man in den 1970er Jahren „Chancengleichheit“, später dann „Bildungsgerechtigkeit“ nannte. Aber das ist eine politische Aufgabe und nicht eine, die wir als Forschende mit wissenschaftlichen Mitteln lösen werden.

»Wir müssen klären, in welcher Weise Zugänge zu Bildung und zum „Bildungswissen“ erfolgen, wie sie erleichtert und organisiert werden können.«

Betreffen Ihre Überlegungen auch die Wirkung von Bildungsreformen?

In den letzten Jahren sind – wieder einmal, muss man sagen – eine Menge an bildungspolitischen Reformmaßnahmen mit verhältnismäßig großen finanziellen Mitteln vorangetrieben worden. Parallel hat auch die empirische Bildungsforschung einen enormen Aufschwung erlebt. Vor dem Hintergrund der nun seit etwa 30 Jahren wirkenden „Ökonomisierung“ einerseits und der Expertisierung und Technokratisierung staatlicher Entscheidungen andererseits, ist zu erwarten, dass es ein Interesse daran gibt, ob und in welcher Weise solche Reformbestrebungen wirken oder überhaupt wirken können.

Es hört sich ein wenig so an, als sei das alles sehr schwierig – wieso ist das aus Ihrer Sicht problematisch?

Durch die gegenwärtigen Entwicklungen werden gesellschaftliche Problemlagen hervorgerufen, die das Bildungswesen nicht lösen kann, auf die es aber reagieren muss. Unsere Aufgabe ist es, diese Fragen nicht zu leugnen, sie vielmehr in ihren Schattierungen zu erkennen, sie proaktiv in unsere Forschung zu integrieren und für einen rationalen Umgang mit ihnen zu sorgen. Das schließt auch ein, öffentlich und gesellschaftlich wirksame Formate für eine rationale Diskussion zu entwerfen und anzubieten. Darüber hinaus gilt es zu erforschen, wie über solche Themen – die nie neu sind – in der Geschichte schon verhandelt wurde und welche Kategorien bisher bereitgestellt wurden, um sie zu reflektieren und zu bearbeiten. Darauf aufbauend sollte man dann über die weitere Forschung nachdenken.

Sie sprachen einmal von der Rolle des „Gedächtnisses“ für die Bildungswesen: Was meinen Sie damit?

Es gibt gute Gründe, in der Bildungsforschung neben empirisch-quantitativen Zugängen in gewissem Maße auch auf historische und reflexive Wissensformen zu setzen. Der BBF kommt die Aufgabe zu, eine Art „Gedächtnis gegen Erinnerungslosigkeit“ zu sein. Wir haben mehr zu verlieren als nur das Wissen darum, wie es gewesen ist, sondern auch die Fähigkeit, angemessen einschätzen zu können, was aus den Dingen werden kann, entziffern zu können, was „fällig, was hinfällig und was über es hinaus objektiv möglich ist“, wie das bei Habermas mit Blick auf den Verlust einer utopischen Dimension heißt. Historisches Wissen vermag nicht nur unrealistische Reformeuphorie zu dämpfen; vielmehr schafft es eine notwendige Distanz zu lange gültigen Meinungen und scheinbar natürlichen Gegebenheiten. Ein solches historisches Gedächtnis des Bildungswesens ist kein „Spaßverderber“, aber es trägt doch dazu bei, überhaupt problematische oder zu hoch gesteckte Erwartungen der Bildungspolitik – oder auch der Praxis – zu hinterfragen.

Sollen jetzt alle Projekte der Bildungsforschung historische Aspekte integrieren?

Nein, natürlich nicht – mir geht es um eine notwendige Würdigung der historischen Wissensform. Die inhaltliche Notwendigkeit eines solchen Gedächtnisses muss deutlich werden. Ausdrücklich möchte ich hier nicht die konservative Formel eines Gegenspielers von Habermas, Odo Marquard, zitieren – „Zukunft braucht Herkunft“. Aber passen würde es schon. Es muss klar werden, dass man den historischen Wissensformen eine strategische Rolle zuweist, die über die eines Anhängsels hinausgeht.

Könnten Sie das anhand eines Beispiels konkretisieren?

Nehmen wir einmal das Assessment, also das möglichst zuverlässige Erfassen von Lernergebnissen. Dessen Geschichte schauen wir uns nicht an, um zu zeigen, wie weit man schon bei der Produktion von Wissen und bei der Entwicklung von Testverfahren ist. Historikerinnen und Historiker sind heute weniger daran interessiert, einfache „Fortschrittsgeschichten“ zu erzählen. Es geht etwa in diesem Falle darum, historisch aufzuzeigen, warum mit der Entwicklung von Assessments eben nicht einfach die meritokratische Idee in der Schule Realität geworden ist, also die Vorstellung, dass ausschließlich bessere Leistungen zählen. Oder dass auf Basis einer besseren Leistungsmessung gar Gerechtigkeit eingezogen und jedes erfahrene Lehrerurteil ersetzbar ist. Dafür waren unterschiedliche und zusammenwirkende Faktoren ausschlaggebend – weniger die Verfahren, mit denen gemessen wurde. Dieses Wissen könnte helfen, überzogene Erwartungen an das mit empirischen Methoden gewonnene Wissen zu mäßigen, ohne dass das so produzierte Wissen entwertet wird.

Vielen Dank für die Ausführungen!

 

Portraitfoto Prof. Dr. Sabine RehProf. Dr. Sabine Reh ist Professorin für Historische Bildungsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin und wissenschaftliche Leiterin der BBF | Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des DIPF. In ihrer Forschung konzentriert sie sich insbesondere auf die Kultur- und Sozialgeschichte pädagogischer Institutionen, Professionen, Praktiken, Wissensformen und Diskurse.

Die BBF ist eine Forschungsbibliothek mit einem herausragenden Bibliotheks- und Archivbestand zur deutschen Bildungsgeschichte und ein Zentrum der historischen Bildungsforschung in Deutschland. Weitere Infos finden sich auf der BBF-Website.