„Wir bieten einen historischen Wissensspeicher“

„Wir bieten einen historischen Wissensspeicher“
Tom Baerwald für DIPF
16.09.2021 Interview
Zahlreiche Institute der Leibniz-Gemeinschaft verfügen über eigene Archive. Sie decken ein breites Spektrum an Tätigkeiten ab und haben sich auch in einem Arbeitskreis zusammengeschlossen. Dr. Bettina Reimers vom DIPF ist derzeit eine der beiden Sprecher*innen dieses Arbeitskreises. Im Interview erläutert sie die Vielfalt der Archivaufgaben und den Wert der Vernetzung. Ein Gespräch über Zeugnisse der Vergangenheit, Brandschutz, digitalisierte Porträtaufnahmen und Tausende von Regalmetern.

dipf.de: Können Sie uns zu Anfang einen groben Überblick über die Aufgaben geben, die die Archive im Kontext der Leibniz-Gemeinschaft übernehmen?

Bettina Reimers: Das sind sehr heterogene Aufgaben. Die Archive gehören allen Sektionen der Leibniz-Gemeinschaft an und bilden somit ein inhaltlich breites Spektrum ab. Die Sammlungsschwerpunkte reichen von Technik und Bergbau über Insektenforschung und Naturkunde bis hin zu Bildung und Geografie, um ein paar Beispiele zu nennen. Manche dieser Archive werden nur von einer Person verantwortet, während andere, wie die Archive der Forschungsmuseen, wesentlich größer aufgestellt sind. Aber alle von ihnen sind sammelnde Spezialarchive. Sie haben zum einen das Ziel, das nichtstaatliche Archivgut zu ihren Schwerpunkten zu übernehmen, zu sichern und dauerhaft zu verwahren. Zum anderen gilt es, diese wichtigen Zeugnisse der Vergangenheit zu erschließen und dadurch eine Nutzung durch die Forschung und die interessierte Öffentlichkeit zu ermöglichen. Nur so kann das Quellengut beforscht und ausgewertet werden.

Sie leiten ja selbst ein Archiv: Stellen Sie dessen Ausrichtung doch einmal vor, damit wir uns ein sammelndes Spezialarchiv besser vorstellen können.

Unser Archiv gehört zur BBF | Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung, die wiederum eine Abteilung des DIPF ist. Mit der Sicherung und der Bereitstellung von einzigartigem Quellenmaterial tragen wir dazu bei, die Geschichte von Erziehung und Bildung zu dokumentieren. Auch die Geschichte der beteiligten Fachdisziplinen nehmen wir in den Blick. Beim Aufnehmen neuer Bestände achten wir sehr darauf, dass die Quellen eine hohe Bedeutung hinsichtlich historischer Fragestellungen aufweisen. Bis auf wenige Ausnahmen verwahrt unser Archiv ausschließlich Originaldokumente.

Dazu gehören zum Beispiel der historische Bestand der Deutschen Lehrerbücherei von 1876 bis 1950 oder das Archiv der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR für den Zeitraum von 1949 bis 1990. Insgesamt umfasst unser Archivbestand 1.800 Regalmeter. Er beinhaltet Schriftgutbestände privater und institutioneller Provenienz, Nachlässe und Sammlungen, Handschriften und Fotografien. Neben Beständen aus privater Hand übernehmen wir vor allem Materialien von Organisationen und Institutionen, die nicht abgabepflichtig an staatliche oder andere Archive sind. Die älteste Urkunde datiert aus dem 16. Jahrhundert, das jüngste Dokument stammt aus dem Jahr 2020.

Derzeit sind Sie außerdem Sprecherin des Arbeitskreises Archive der Leibniz-Gemeinschaft. Wie ist dieser Zusammenschluss entstanden – und zu welchem Zweck?

Los ging es eigentlich im Jahr 2005, als sich Archivar*innen aus acht Leibniz-Einrichtungen zunächst als Arbeitsgruppe zusammengeschlossen haben. Der Status eines präsidialen Arbeitskreises wurde dann auf Antrag der Mitglieder im Februar 2008 anerkannt. Gegenwärtig gehören ihm 27 Archive aus 25 Instituten der Leibniz-Gemeinschaft an. Sie verwahren zum überwiegenden Teil Sammlungen von nationaler Bedeutung mit einem Umfang von 33.000 Regalmetern. Für die aktuelle Forschung bieten sie einen historischen Wissensspeicher und halten zugleich Quellengrundlagen für künftige wissenschaftliche Arbeiten bereit.

Der Arbeitskreis erfüllt zahlreiche Aufgaben: Er dient dazu, sich auszutauschen und die Zusammenarbeit zu intensiveren. Wir wollen außerdem die Position unserer Archive in der Außendarstellung stärken – sowohl innerhalb der Leibniz-Gemeinschaft als auch im gesamten deutschen Archivwesen. Wir führen gemeinsame Projekte durch, die gegebenenfalls durch Drittmittel finanziert werden. Nicht zuletzt beraten wir das Präsidium und den Präsidenten der Leibniz-Gemeinschaft und erarbeiten Stellungnahmen für sie. Und natürlich unterstützen wir auch andere Leibniz-Institute, indem wir sie zum Beispiel zum Auf- und Ausbau von Archiv-Sammlungen beraten.

Über was tauschen Sie sich im Arbeitskreis ganz konkret aus?

Am Anfang der gemeinsamen Arbeit haben wir intensiv darüber diskutiert, wie wichtig es ist, Sammlungsschwerpunkte festzuschreiben und darauf aufbauend ein klares Profil mit entsprechender Sammlungspolitik zu formulieren. Auf dieser Basis haben wir dann auch gemeinsame Strukturen entwickelt, um Archivgut aus privater Hand an die richtige Stelle, an das richtige Spezialarchiv zu vermitteln. Somit verhindern wir auch, dass es verloren geht. Man kann sagen, dass sich die Archive durch die Vernetzung insgesamt wesentlich systematischer aufgestellt haben.

Ganz plakativ gesprochen dient die Abstimmung auch dazu, Fehler, die schon einmal gemacht wurden, nicht zu wiederholen und aus Best-Practice-Beispielen zu lernen. Dazu ist es unerlässlich, ganz offen über das Gelingen und Misslingen von Vorhaben zu sprechen. Es geht auch um technische Anforderungen, um Datenbanksysteme, Digitalisierungsvorhaben, Schnittstellen oder empfehlenswerte Anbieter. Und die ganzen archivfachlichen Fragen stehen natürlich ebenfalls im Mittelpunkt: Welche Leistungsindikatoren sind geeignet? Welche rechtlichen Vorgaben gilt es zu beachten, wenn man Archivgut physisch oder rein digital im Netz bereitstellt? Wie kann man die empfindlichen Quellen mit passenden Systemen vor Feuer, Wasser oder Diebstahl schützen? Wie lassen sich unterschiedliche Materialien, zum Beispiel Papier, Filme, Fotos oder Tonträger, bestmöglich erhalten? Um nur einige zu nennen.

Welche gemeinsamen Projekte und Angebote haben sie schon vorangebracht – vielleicht können Sie uns zwei Beispiele nennen?

Im Rahmen der beiden Projekte „DigiPeer“ und „DigiPortA“ haben mehrere Archive der Leibniz-Gemeinschaft gemeinsame Standards für das kooperative Erfassen, Digitalisieren und Präsentieren von Plänen und Zeichnungen beziehungsweise von Porträts festgelegt. Das Material steht nun für die Forschung und die interessierte Öffentlichkeit online zur Verfügung und erhöht so die Sichtbarkeit der Archive. Das ist ein wahrhaft reichhaltiger Quellenschatz: Das digitale Archiv von DigiPeer stellt 25.000 Digitalisate bereit. Diese Pläne und Zeichnungen dokumentieren, wie im 20. Jahrhundert der Raum erschlossen wurde. DigiPortA enthält wiederum rund 33.000 Porträts und Gruppenaufnahmen von Akteur*innen aus den Bereichen Kunst, Wissenschaft, Industrie und Technik, Schule und Bildung sowie Politik und Gesellschaft. Wenn sie also zum Beispiel den technischen Fortschritt im Schiffsbau nachzeichnen wollen oder sich dafür interessieren, wie Albert Einstein von Zeitzeug*innen in Szene gesetzt wurde, könnten sie in diesen Datenbanken wertvolle Quellen finden.

Wir haben auch einige gemeinsame Publikationen herausgebracht. Exemplarisch möchte ich den Band „Forschen, Reisen, Entdecken“ nennen. An ihm haben sich alle Leibniz-Archive beteiligt und stellen in dem Buch herausragende Quellenstücke vor, die repräsentativ für ihre Sammlungen sind. Bei aller Heterogenität der Bestände wird hier das Verbindende der Archivarbeit deutlich. Denn es zeigt sich, dass mit all diesen Quellen spannende Geschichten verbunden sind. Weitere Einblicke in die Arbeit der Archive können sich Interessierte aber auch über die Broschüre „Kultur bewahren“ oder über unseren gemeinsamen Blog „Archive in der Leibniz-Gemeinschaft“ verschaffen.

Vielleicht noch ein kurzer Blick nach vorne: Was ist derzeit das drängendste Thema, das der Arbeitskreis voranbringen möchte?

Ein zentrales Thema ist derzeit sicherlich „Open Science“, also das Bestreben der Wissenschaft, ihre Prozesse und Ergebnisse offen zugänglich und transparent zu gestalten. Wie schon erwähnt stellt sich hierbei für Archive die Frage, wie wir Bestände auch digital möglichst rechtskonform und mit allen notwendigen Erschließungsangaben bereitstellen können, mit welchen Lizenzen wir es ermöglichen, das Archivgut und das Bildmaterial zu nutzen.

Abschließend möchte ich noch auf ein neues Vorhaben hinweisen: Ein Team im Rahmen des Arbeitskreises arbeitet daran, die gezielte Weiterbildung des – überwiegend – nicht-wissenschaftlichen Personals in den Archiven zu verbessern. Dabei soll es vor allem um die veränderten Anforderungen durch die digitale Transformation der Gesellschaft gehen. Denn auch dabei spielt die Archivierung eine wichtige Rolle.

Vielen herzlichen Dank für das Gespräch.

 

Portraitfoto Dr. Bettina ReimersDr. Bettina Reimers leitet das Archiv der BBF | Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des DIPF. Die Bildungshistorikerin und Archivwissenschaftlerin ist in zahlreiche Forschungs- und Digitalisierungsprojekte der BBF eingebunden. In ihrer Promotion hat sie sich mit der Thüringer Volkshochschulbewegung in der Weimarer Republik befasst.