Sozial verantwortungsvolles Programmieren: Wo Bildungswege und Markt auseinandergehen
Die von Dr. Natalie Kiesler vom DIPF und Carsten Thorbrügge von der Fernuniversität durchgeführte Studie wurde auf der „2023 Conference on Innovation and Technology in Computer Science Education“ der „Association for Computing Machinery“ im finnischen Turku vorgestellt und im entsprechenden Konferenzband veröffentlicht.
Für ihre Untersuchung haben die Forschenden zunächst auf Grundlage von Richtlinien von Fachgesellschaften und Erwartungen am Markt eine Arbeitsdefinition von sozial verantwortlichem Programmieren entwickelt. Demnach sollte man so programmieren, dass es allen Interessensgruppen zugutekommt, und ehrlich mit der Leistungsfähigkeit und den Grenzen von Programmen umgehen. Das setzt unter anderem voraus, Gesetze zu kennen und die Folgen für verschiedene Gruppen abschätzen und bei der IT-Entwicklung berücksichtigen zu können. Diese Definition diente als Basis für drei Auswertungen von Natalie Kiesler und Carsten Thorbrügge:
- Die beiden Wissenschaftler*innen führten vertiefende Analysen von früheren eigenen Arbeiten durch. Dabei hatten sie die Lehr-/Lernziele der Rahmenpläne für die Berufsausbildung zur*m Fachinformatiker*in und die Kompetenzziele in der Grundausbildung des Informatik-Bachelor-Studiums von 35 deutschen Hochschulen beleuchtet.
- Ein weiterer bestehender Forschungsdatensatz von einem Team der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel unter Leitung von Gregor Große-Bölting wurde erneut analysiert. Der Fokus lag auf den Lehrplänen spezifischer Ethik-Kurse im Informatik-Studium an 67 Hochschulen.
- In einer gänzlich neuen Untersuchung befasste sich das Studien-Team zudem mit 30 Jobanzeigen für Software-Entwickler*innen. Dafür nahmen sie je zwei Anzeigen der 15 größten internationalen Tech-Unternehmen (nach Umsatz und Marktkapitalisierung) unter die Lupe.
Anhand dieser Daten arbeiteten die Forschenden sechs Ebenen von sozial verantwortungsvollem Programmieren heraus: einen sorgfältigen Umgang mit (1.) den Daten und eventuell darin enthaltener Voreingenommenheit, (2.) staatlichen Vorgaben, (3.) dem Unternehmen, (4.) den direkten Kolleg*innen und Projektmitgliedern, (5.) den Kund*innen und Nutzenden sowie (6.) gegenüber sich selbst. Auf diese Kategorien hin verglichen sie die genannten Lehrinhalte und Jobprofile anschließend in einer qualitativen Untersuchung der Datensätze.
Ergebnisse
Als Kernbefunde der Analysen halten Kiesler und Thorbrügge fest: „In den Bildungswegen von Programmierer*innen und den Job-Beschreibungen der IT-Industrie werden nicht alle von uns herausgearbeiteten Aspekte sozialer Verantwortung integriert – mit unterschiedlichen Lücken auf jeder Seite.“ So fehlen in den Vorgaben zur Berufsausbildung und an den Hochschulen der verantwortliche Umgang mit den Daten sowie der verantwortliche Umgang mit Unternehmens-Bestimmungen. Diese Aspekte werden aber von den Firmen in ihren Job-Profilen erwartet. Umgekehrt thematisieren die Bildungsgänge einen verantwortungsbewussten Umgang mit den eigenen Bedürfnissen in Grundzügen, in den Stellenanzeigen kommt dieser Aspekt aber nicht vor.
Was beide Seiten vereint: Sie integrieren einen verantwortungsvollen Umgang mit dem eigenen Team und Projektpartner*innen, mit Kund*innen und Nutzenden sowie mit staatlichen Vorgaben. Was allerdings als generelle Lücke auffällt und daher auch als Vergleichskategorie nicht aufgenommen wurde: „Weder in den Bildungswegen noch in den in den Stellenanzeigen kommt vor, beim Programmieren auch das Wohl der gesamten Gesellschaft zu berücksichtigen“, so Kiesler und Thorbrügge.
Mit Blick auf die Bildungsgänge haben sich in der Studie zudem weitere problematische Aspekte gezeigt: Beispielsweise waren rechtliche Vorgaben Teil der Berufsausbildung und der Ethik-Kurse an den Hochschulen, nicht aber der dortigen Informatik-Grundkurse. Zudem bieten 34 der 67 Hochschulen überhaupt keine Ethik-Kurse an, wie die Auswertung der Universität Kiel bereits gezeigt hatte. Dabei können sie helfen, das Thema des sozial verantwortlichen Programmierens in den Blick zu nehmen. In 24 Fällen gibt es sie als optionales Angebot, nur an 9 Hochschulen sind sie verpflichtend.
Implikationen
Als zentrale Schlussfolgerung aus diesen Ergebnissen sehen die Forschenden, dass Bildungswege für Programmierer*innen und Jobprofile der IT-Unternehmen die fehlenden Aspekte sozialer Verantwortung integrieren sollten. „Es geht nicht nur darum, Angebot und Nachfrage auf dem Stellenmarkt besser aufeinander abzustimmen. Angesichts der hohen Bedeutung von IT-Anwendungen gilt es auch, sozial verantwortliches Programmieren als Thema systematisch und insgesamt stärker auf die Tagesordnung zu setzen“, erläutert Natalie Kiesler. Carsten Thorbrügge ergänzt: „Sozial verantwortliches Programmieren sollte an den Hochschulen nicht nur Teil der Grundausbildung sein, sondern durch weiterführende Ethik-Kurse ergänzt werden.“
Die Studien-Autor*innen weisen aber darauf hin, dass die Aussagekraft ihrer Analysen eingeschränkt ist. Unter anderem beziehe sich die Untersuchung nur auf normative Lehr-Vorgaben und berücksichtige nicht die tatsächliche Lehr-Praxis in der Berufsausbildung und an den Hochschulen. Außerdem sei die Anzahl der herangezogenen Job-Anzeigen relativ klein und beinhalte nicht die Anzeigen kleinerer und mittlerer Unternehmen mit möglichen lokalen Unterschieden.
Der gesamte Fachbeitrag zu der Studie ist online verfügbar
Kiesler, N. & Thorbrügge, C. (2023). Socially Responsible Programming in Computing Education and Expectations in the Profession. In Proceedings of the 2023 Conference on Innovation and Technology in Computer Science Education Vol. 1 (ITiCSE 2023, pp 443-449), New York, NY: Association for Computing Machinery. https://doi.org/10.1145/3587102.3588839
Kontakt
Studie: Dr. Natalie Kiesler, DIPF, +49 (0)69 24708-534, bi5raWVzbGVyQGRpcGYuZGU=
Carsten Thorbrügge, Fernuniversität Hagen, +49 (0)2331 987-4352,
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Presse: Philip Stirm, DIPF, +49 (0)69 24708-123, cC5zdGlybUBkaXBmLmRl, cHJAZGlwZi5kZQ==